Ästhetischer Kontraktualismus. Literatur und Recht im Europa des 18. Jahrhunderts
Hat die literarische Auseinandersetzung mit Fragen der Rechtsphilosophie Innovationen oder Veränderungen in der Literaturtradition bewirkt?
Prof. Stiening fragt in diesem Projekt mit einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Perspektive, wie Höhenkammwerke des 18. Jahrhunderts aus England (Swift, Fielding, Smollett), Frankreich (Rousseau, Voltaire, Diderot) und Deutschland (Lessing, Wieland) rechtsphilosophische Grundlagentheorien bearbeiten, d. h. welchen Beitrag die Literatur der drei Länder zu jenen Debatten leistete, die zur Etablierung heutiger rechtsstaatlicher Vorstellungen führten und die – eben im Zuge der Institutionalisierung der Rechtsstaatlichkeit – im 18. Jh. unmittelbar politischen Charakter gehabt haben.
Das Vorhaben situiert sich in dem von Amerika ausgehenden Forschungsfeld „law and literature“, das bislang vielfältige Fragen der Rechtsgeschichte und deren Bedeutung für die Literatur oder die Textgestalt juristischer Schriften behandelt hat. Jedoch ist bislang in keiner Nationalphilologie die Auseinandersetzung der literarischen Hochkultur mit Grundsatzfragen der Staats- und Rechtsphilosophie bearbeitet worden.
Die besondere Leistung der Literatur für jene Diskussionen hat darin bestanden, dass sie die philosophischen Theorien einem Verifikations- oder Falsifikations-Test einer (zwar fiktionalen, aber mimetisch plausiblen) Empirie unterworfen hat. Von den Autoren reflektiert und in den Werken verarbeitet worden sind Fragen wie: Ist eine staatliche Vergemeinschaftung durch eine soziale Natur des Menschen garantiert und legitimiert? Welche Form der Vergemeinschaftung ist die dem Menschen angemessenste? Ist die Monarchie (noch) die adäquateste Regierungsform für den modernen Zentralstaat? Sind Gesetze (wie von Grotius, Pufendorf u. a. behauptet) als Einschränkung menschlicher Freiheit oder (nach Hobbes oder Kant) als deren Verwirklichungsbedingung zu begreifen? In welchem Verhältnis sind Moral und Recht oder Regierungsform und Recht zu sehen? Was können oder sollen Kunst und Literatur bei der Transformation bestehender Verhältnisse zu einem idealen Gemeinwesen leisten? Ästhetischen Bildungsprogrammen bzw. der Literatur selbst ist hierbei eine zentrale Rolle zuerkannt worden.
Zunächst sollen aus den Texten paradigmatische Problemstellungen herausgearbeitet werden, um ein allgemeines Bild der literarischen Reflexion auf Naturzustand, Staat, Strafen, Recht oder Fragen der Rechtsgeltung etc. zu gewinnen. Die konkrete Analysearbeit soll jedoch dann an den einzelnen Texten ausgerichtet sein und deren spezifische Bearbeitung solcher Fragen in ihrer Verbindung mit der jeweiligen thematisch-formalen Textgestalt erhellen. Die Erkenntnisse sollen in einer Monographie publiziert werden.
Untersuchungsleitend werden dabei etwa folgende Fragen sein: Welche literarischen Gattungen werden zur Auseinandersetzung mit Fragen der Rechtsgeltung bevorzugt? Wird der Naturzustand geschildert und wenn ja, wie? Wird er (wie bei Hobbes, Rousseau und Kant) als regulatives Ideal der kontraktualistischen Begründungstheorie von Staatsgebilden reflektiert? Wie wird das Verhältnis des individuellen Willens zur ‚volonté générale‘ konzipiert, welche Vermittlungsmodelle werden angeboten? Wie wird die Frage der Geltung internationalen Rechts behandelt in Zeiten, die kein verbindliches Kriegsrecht kannten? Gibt es für die Autoren einen gerechten Krieg? Welche Überlegungen stellen die Autoren zur Strafrechtstheorie an, geben sie Gründe für Strafen überhaupt an oder Prinzipien der Strafbemessung?