Alfred Schütz in Wien: Die kommunikative Vereinbarkeit des Unvereinbaren
Alfred Schütz‘ Werk »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (1932) und seine frühen Manuskripte zeigen einen Theorieentwurf, bei dem bis dato als unvereinbar geltende philosophische und sozialwissenschaftliche Positionen vermittelt sind.
Der wirkungsgeschichtliche Einfluss, den frühe Denker des mitteleuropäischen Kulturraums um die Wende zum 20. Jahrhundert auf die Etablierung sozialwissenschaftlicher Methodologien, Handlungs- und Gesellschaftstheorien ausgeübt haben, steht außer Frage. Neben Heidelberg, Berlin und Köln zählte Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten geistigen Zentren. Die Stadt war durch eine besondere Situation geprägt, weil die lokale Dichte an Wissenschaftlern nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie stark zunahm, sich eine zunehmend angespannte politische Situation zwischen konservativen und liberalen Lagern einstellte und jüdische Intellektuelle ebenso wie Frauen an der Universität Wien gezielt marginalisiert wurden. Diskussionszirkel außerhalb der Universität und abseits innerakademischer Wissenschaftsdebatten gewannen erheblich an Bedeutung. Die Vielfalt an z. T. miteinander verbundenen Kreisen, in denen eine Vielzahl konkurrierender Positionen aufeinandertrafen, gilt als soziologisches Spezifikum der Wiener Moderne.
Alfred Schütz (1899-1959) ist ein exemplarischer Vertreter eines solchen »Kreis-Gängers«. Er bewegte sich zeitgleich im »Mises-Privatseminar«, dem »Geist-Kreis« und dem »Kelsen-Privatseminar«. Sein noch in Wien veröffentlichtes Werk »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (1932) und seine frühen Manuskripte zeigen einen spannungsgeladenen Theorieentwurf, bei dem bis dato als unvereinbar geltende philosophische und sozialwissenschaftliche Positionen vermittelt sind.
Die Anlage seines Frühwerks, das die am interpretativen Paradigma orientierte Soziologie nachhaltig prägen sollte, ist nicht nur Ergebnis der Schaffenskraft von Schütz. Sie legt Zeugnis ab von einem soziohistorisch einmaligen Denkstil, der in Wiener Gelehrtenassoziationen abseits der Universität gepflegt wurde: Im intensiven Dialog von Nationalökonomie, Rechtswissenschaften, Philosophie, Psychologie und Geschichtswissenschaften wurden widersprüchliche und innerakademisch ungeläufige oder verdrängte Begriffe, Methoden und Theorien miteinander ins Benehmen gesetzt.
Im Forschungsprojekt wird dem kulturellen »Ermöglichungsmoment« der Zirkel für einen Werkentwurf wie den von Alfred Schütz erstmals systematisch nachgegangen. Am Beispiel der drei von Schütz frequentierten Kreise wird untersucht, wie in einer (gezielt herbeigeführten) Situation fachlicher und theoretischer Heterogenität widersprüchliche Wissenschaftspositionen bearbeitet wurden. In solch breiten Themenzusammenhängen, in denen Disziplinen noch nicht ausdifferenziert waren, ist ein Auseinanderdriften von Fragestellungen wahrscheinlich. Deshalb wird am Fall von Schütz die Parallelentwicklung einer »Ökonomie des Wissens« und einer (neueren) »Soziologie des Wissens« untersucht, die möglicherweise auf die spezifische Art der Themenbearbeitung in den Kreisen der 1920er und 1930er Jahre zurückgehen könnte.
Diese akademischen Zirkel werden konzeptionell als Kommunikative Wissenskulturen gefasst. Das Forschungsvorhaben zielt damit auf die hier vorfindliche(n) spezifische(n) Kultur(en) der Wissensproduktion ab, in der die Erwartungen an einen als angemessen verstandenen Diskussionsbeitrag und an antizipierte Kritik die situativen face-to-face-Diskussionen im Sprachlichen sowie die situationsübergreifenden Vor- und Nachbereitungen der Teilnehmer im Schriftlichen geprägt haben.