Altorientalische Erinnerungskulturen. Eine Untersuchung zum Interesse an und zur Bedeutung von Vergangenheit in altorientalischen Gesellschaften ausgehend von der materiellen Kultur
Eine theoretisch fundierte und auf breiter Quellenbasis operierende Studie, die die Entwicklung der altorientalischen Erinnerungskultur nachvollzieht, stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.
Ausgehend von einer systematischen Materialsammlung besonders aussagekräftiger Funde aus den Siedlungen Ur, Assur, Ešnunna und Tutub möchte Prof. Schmitt eine solche umfassende Studie zur altorientalischen Erinnerungskultur Mesopotamiens vom 3. Jahrtausend bis zur Mitte des 1. Jahrtausends vorlegen. Unter Erinnerungskultur versteht er dabei „die Gesamtheit aller Phänomene menschlicher Gesellschaft, die den gemeinsamen Umgang mit Vergangenheit zum Inhalt haben“ (M. Berek).
Vor allem soll die Quellenlage gesichtet, erweitert und analysiert werden, wobei in erster Linie danach gefragt wird, welche Inhalte, wann, von wem und warum erinnert wurden. Da die Quellen vornehmlich über gesellschaftliche Eliten informieren, konzentriert sich Prof. Schmitt bei seiner Untersuchung auf diese soziale Gruppe, hat dabei aber auch ein Augenmerk auf die mesopotamischen Schreiber, denen durch ihre Tätigkeit beim Verfassen und Kopieren von alten Texten sicherlich eine hervorragende Rolle beim Bewahren und Formen der kollektiven Gedächtnisse zukam. Prof. Schmitt verspricht sich durch die Auswertung der Quellen eine differenzierte Betrachtung altorientalischer Erinnerungskulturen, die wiederum anschlussfähig für weiterführende komparatistische Studien sein könnte.
An den vier Hauptfundorten, die sich im Rahmen von Vorarbeiten als besonders vielversprechend herausgestellt haben, konnten einschlägige Objekte und Funde in großer Anzahl aus entsprechend langen Zeiträumen gesichert werden. Neben den architektonischen Hinterlassenschaften zählen dazu Antiquitäten (z. B. Rollsiegel, die sich über mehrere Generationen im Besitz einer Familie befanden), Kopien, Nachahmungen und schriftliche Quellen (Herrscherinschriften auf Weihgaben und Bauurkunden). Die geborgenen Objekte wurden bereits dokumentarisch soweit aufgearbeitet, dass sie für die Studie nutzbar gemacht werden können. In Ergänzung zu den genannten Fallbeispielen möchte Prof. Schmitt Befunde aus anderen Orten und Museumssammlungen in Europa und USA heranziehen, darunter aus Babylon, Bismaya (Adab), Horsabad (Dur Šarrukin), Išan Bahriyat (Isin), Kujuncik (Ninive), Nimrud (Kalḫu), Susa, Tell Abu Habba/Tell ed-Der (Sippar), Tell Hariri (Mari), Tell Nuffar (Nippur), Tell Senkereh (Larsa) und Tello (Girsu). Da hier der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Kassitenzeit liegt, werden die Fundorte Nippur, Isin und Larsa einer besonders detaillierten Analyse unterzogen.
Insgesamt soll geklärt werden, welche Rolle das Thema Erinnerung im Leben der Menschen spielte, welche Bedeutung den Objekten dabei zukam und welche Quellen überhaupt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit geben können. Auf der Grundlage der materiellen Kultur und der schriftlichen Quellen wird dann der Frage nachgegangen, welche Inhalte (Ereignisse, Personen) in das kollektive Gedächtnis aufgenommen bzw. ausgeschlossen wurden und wie sich der Umgang mit den Zeugnissen aus der Vergangenheit veränderte. Ferner soll gezeigt werden, warum altorientalische Gesellschaften sich überhaupt auf Ereignisse der Vergangenheit beziehen und wodurch sich die Erinnerungskulturen des Untersuchungsgebiets von Erinnerungskulturen außerhalb des Alten Orients unterscheiden.