Funding Funded Projects Deklamation in Theorie und Praxis: S. I. Bernstejn

Deklamation in Theorie und Praxis: S. I. Bernstejn

Prof. Koschmal befasst sich mit Schriften und Materialien des Formalisten und Linguisten Sergej Ignat’evič Bernštejn (1892-1970).

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt sich in Russland – u.a. im Klima der Avantgarden und ihrer multimedialen Entgrenzung des Wortes – eine florierende Rezitationskultur. Schulen für Deklamation werden begründet, „Kurse für künstlerisches Lesen“ eingerichtet, und es entstehen Lehrwerke für die Rezitation. Wissenschaftlich erforscht die Deklamation das „Institut des lebendigen Wortes“ in Petersburg (1918-24).
Das Projekt von Prof. Walter Koschmal, Institut für Slavistik der Universität Regensburg, gilt einer der maßgeblichen Figuren dieser Szene: Sergej Ignat’evič Bernštejn (1892-1970), Formalist, Linguist und Mitarbeiter an jenem Institut, auch Leiter des von ihm 1923 in Petersburg gegründeten ,,Kabinett[s] zur Erforschung der künstlerischen Sprache“. Erstellt werden erstens eine wissenschaftlich aufbereitete und kommentierte Quellenedition von (bislang größtenteils unpublizierten) Schriften und Materialien Bernštejns. Denn ihm verdankt sich ein für seine Zeit einzigartiges Paradigma der Theoretisierung und praktischen Erforschung der Intermedialität von geschriebenem und gesprochenem Wort. Die Edition wird zweitens von einer Monographie flankiert, die Bernštejns Terminologie, Deklamations-Theorie und Sprachanalysepraxis sowie die historischen Kontexte und Bezugsfelder seiner Arbeit rekonstruiert.
Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt aufgrund des immer umfänglicheren verfügbaren Tonmaterials – in Literatur- und Kulturwissenschaften ein verstärktes Interesse an der Erforschung des gesprochenen Wortes herausgebildet. Gerade die slawischen Avantgarden sind hier ein vielversprechendes Untersuchungsfeld (die bisherige Forschung hat von ihnen aber nur Wort-Bild-Beziehungen erkundet). Insbesondere eine Edition von Bernštejns Schriften, von denen nur sehr wenige zu seinen Lebzeiten erschienen, oder eine systematische Darstellung seines Ansatzes ist auf diesem Gebiet ein Desiderat, steht jedoch bislang aus.
Ein Projektmitarbeiter von Prof. Koschmal hat in Moskau bereits ein erstes ,Bernštejn-Archiv’ für das Projekt zusammengestellt, das bislang 58 Dokumente umfasst (insgesamt sind bereits ca. 150-200 Seiten unveröffentlichtes Quellenmaterial ermittelt: v.a. Aufsätze und Aufsatzentwürfe Bernštejns). Hinzu kommen noch stenographische Protokolle von Veranstaltungen am „Institut des lebendigen Wortes“; zudem konnten Hörermitschriften von Lesungen Bernštejns mit Intonationskurven zu Gedichten N. Gumilevs, A. Belyjs und V. Gusevs gefunden werden. Das Material in seiner Gesamtheit stellt ein nicht nur in Russland einzigartiges kultur- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument dar, dessen Erschließung über die Slawistik hinaus für die Erforschung von gesprochener Sprache zu einem Referenzmodell werden kann.
Als eine besonders günstige Voraussetzung für das Forschungsprojekt kann dabei auf die empirischen Daten zugegriffen werden, anhand derer Bernštejn seine „Theorie der klingenden künstlerischen Sprache“ entwickelte: phonographische Aufnahmen auf Wachswalzen (etwa allein im Jahr 1926 250 Walzen mit ca. 7000 Versen). In den 1930er Jahren, nachdem Bernštejns Forschung und Lehre politisch unterbunden worden war, ist dieses Material in das Leningrader Tonarchiv integriert worden und bei zahlreichen Umzügen  vieles verlorengegangen. In den 1960er Jahren ist das Verbliebene jedoch auf Schallplatten übertragen und in den letzten Jahren digitalisiert worden.
Als erster Schritt der editionsbegleitenden Monographie konturiert Prof. Koschmal Bernštejns Begrifflichkeiten im Kontext seiner Methodologie definitorisch. Sodann wird auf dieser Grundlage ein Vergleich seiner Theorie und Praxis vorgenommen. Zudem wird er in die für ihn wichtigen zeitgenössischen Kontexte gestellt: den des Formalismus sowie der Forschungen am „Institut des lebendigen Wortes“, mit Theoretikern wie B. M. Ejchenbaum, V. M. Zirmunskij u.a., und zudem in die Tradition der deutschen Deklamationsforschung (da Bernštejn Erkenntnisse des deutschen Schallanalytikers Eduard Sievers rezipiert und sich vielfach auf deutsche Rezitationsbeispiele bezogen habe, etwa von Alexander Moissi). Einen weiteren, eigenständigen Kontext bildet seine Deklamationsdidaktik, die für die avantgardistische Theaterästhetik grundlegend geworden ist, u.a. für K. S. Stanislavskij. Im letzten Schritt wird versucht, die Tragfähigkeit von Bernštejns Analysen mit aktuellen technischen Methoden zumindest ansatzweise zu überprüfen, bspw. seine Notationen von Lautstärke, Pausen und Intonationskurven (mit einem Computerprogramm lässt sich etwa nachweisen, ob die von ihm festgestellten Pausenlängen der Wirklichkeit entsprechen).
Edition und Monographie erhellen zusammengenommen nicht nur ein Kapitel in der Geschichte der Intermedialität von Schrift und Rezitation in der historischen Phase zwischen russischer Avantgarde und formalistischer Theorie, sondern schreiben auch eigene Kapitel der russischen Theaterästhetik und des deutsch-russischen Kulturtransfers.

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