Der gute Bürger. Erwartungshorizonte und Zuschreibungspraxen
Wie wird das Ideal des „guten Bürgers“ in den gesellschaftlichen Debatten der demokratischen Verfassungsordnungen des 21. Jahrhunderts ausgelegt?
Der Begriff des Bürgers verkörpert traditionell den klassischen Topos eines aktiven und gemeinwohlorientierten Einzelnen im Gemeinwesen. Dies gilt nicht nur für antike Partizipationsvorstellungen oder den republikanischen Tugenddiskurs der Renaissance, sondern auch für die politische Kulturforschung der Gegenwart. Wie aber das Ideal des „guten Bürgers“ in den gesellschaftlichen Debatten der demokratischen Verfassungsordnungen des 21. Jahrhunderts ausgelegt wird, gerät meist in den Hintergrund. Die Frage nach dem „guten Bürger“ und seinen notwendigen Qualitäten, Fähigkeiten und Kompetenzen wird stattdessen vor allem als Frage nach dem historisch und universell begründeten Kanon bürgerlicher Tugendanforderungen und dessen zeitgenössischer Relevanz interpretiert.
Die Frage, wie und in welcher Weise in den gesellschaftspolitischen Debatten der Gegenwart der Bürgerbegriff verwendet und inhaltlich ausgestaltet wird, mit welchen konkreten Tugendanforderungen, Solidaritätszumutungen und Gemeinsinnerwartungen der „gute Bürger“ dabei verknüpft und von welchem Negativmuster er abgegrenzt wird, steht dabei selten oder gar nicht im Fokus der Analyse. Sie fußt dabei im Gegenteil auf fest vordefinierten Kriterien des Bürgerseins und lässt die Möglichkeit außer Acht, dass der Sinn des Bürgerbegriffs als erlebte Praxis in öffentlichen Diskursen permanent neu ausgehandelt und in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich interpretiert wird. Die Diversität der sozialen Rollen des Bürgers wird kaum berücksichtigt.
Diese perspektivische Verengung möchte Prof. Vorländer auflösen, indem er die Idee des „guten Bürgers“ für die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland in empirischer Hinsicht aufschlüsselt. Er nimmt dabei an, dass die Bedeutung und das Verständnis der Bürgeridee und ihres moralischen Gehalts von der jeweiligen diskursiven Zuschreibungspraxis abhängig sind.
Im Rahmen des Projekts werden politische, ökonomische und gesellschaftliche Diskurse analysiert und nach den in ihnen verhandelten Leitbildern des „guten Bürgers“ gefragt. Mit Hilfe einer kulturwissenschaftlich informierten, politikwissenschaftlichen Methodik werden dabei sechs thematische Untersuchungsbereiche vergleichend analysiert: der „engagierte Bürger“, der „Bürger als Amtsträger“, der „Bürger in Uniform“, der „Wirtschaftsbürger“, der „Wutbürger“ und „der Neubürger“.
Die vergleichende Untersuchung der verschiedenen Diskurse soll es ermöglichen, nicht nur das zeitgenössische Verständnis von Begriffen wie Bürger, Bürgerlichkeit oder Bürgergesellschaft zu schärfen, sondern auch den Blick auf jene komplexen und voraussetzungsreichen Kohäsionskräfte zu richten, die wesentlich zum Zusammenhalt der demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert beitragen.