Die Causes Célèbres des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland. Narrative Formen und anthropologische Funktionen
Im Rahmen des Projekts werden juristische Fallberichtserzählungen („Causes Célèbres“) in Frankreich und Deutschland in den Blick genommen.
Anhand dieser „Causes Célèbres“ versuchen Prof. Behrens und Prof. Zelle, die Genese einer erzählerisch konditionierten Anthropologie des Bösen unter den juristischen, medialen, narrativen und medizinischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Vor allem steht dabei die Konstitution diverser Typen von Abwehrbildern des „Bösen“, mittels derer sich anthropologische Normalität in jenem Jahrhundert stabilisiert, im Mittelpunkt. Zugleich möchten die Wissenschaftler damit eine Basis für eine Neuperspektivierung der literarischen Verbrechensthematisierung zwischen Realismus, Naturalismus und Dekadentismus schaffen.
Untersucht wird erstens in narratologisch-morphologischer Perspektive, wie die Erzählmodelle der moralistisch grundierten Modellsammlung von Gayot de Pitaval (1734-1743), deren Paradigma des Sensationellen und Spektakulären im Laufe des 19. Jahrhunderts durch prozessnahe und juristisch zentrierte Fallberichte abgelöst wird, in beiden Kulturen und Rechtssystemen den jeweiligen juristischen, anthropologischen, medialen Kontexten angepasst werden bzw. in diese hineingreifen.
Zweitens wird mentalitäts- und funktionsgeschichtlich beobachtet, wie die Causes Célèbres mit diachron unterschiedlichen Strategien der Psychologisierung des Täters interagieren, unter Berücksichtigung biologischer, medizinischer und soziologischer Dispositive (Darwin, Lombroso, Morel etc.).
Drittens wird kulturvergleichend nach Gemeinsamkeiten und Differenzen der Funktionen des Genres in beiden nationalen Kontexten, nach den sich dort jeweils ausbildenden Erzählmorphologien und deren Verhältnis zu (hoch-) literarischen, fiktionalen Verbrechensverarbeitungen gefragt.