Die Phänomenologie der Münchener und Göttinger Kreise: Ein philosophisches Projekt
Ziel des Vorhabens ist es, den historischen Rahmen der Frühphänomenologie näher zu erhellen, indem die unterschiedlichen Lehrmeinungen insbesondere bezüglich der Intentionalitätstheorie bei einigen der schulzugehörigen Autoren erörtert werden.
Dem Projekt liegt die allgemeine Hypothese zugrunde, dass die Ausformungen der Phänomenologie der sogenannten „Münchener“ und „Göttinger Kreise“ gegenüber der Phäno¬menologie Edmund Husserls (1859-1938) eine theoretische Autonomie besitzen, die weit stärker ausgeprägt ist, als es bis jetzt von der Fachwissenschaft wahrgenommen wurde. Die in der Fachliteratur üblichen Abkürzungen „Münchener“ und „Göttinger Kreise“ bezeichnen den 1895 von Theodor Lipps in München begründeten „Akademischen Verein für Psychologie“ sowie die 1906 von Theodor Conrad in Göttingen ins Leben gerufene „Philosophische Gesellschaft Göttingen“. Die für die Ziele dieses Vorhabens wichtigsten Mitglieder der beiden Gruppen sind Theodor Conrad, Hedwig Conrad-Martius, Johannes Daubert, Herbert Leyendecker, Paul Linke, Alexander Pfänder, Adolf Reinach, Hermann Ritzel, Wilhelm Schapp, Edith Stein.
Genauer wird in diesem Forschungsvorhaben der These nachgegangen, dass seitens der „Münchener-Göttinger“ die Lektüre von Husserl von Beginn an mit gravierenden Einwänden verbunden war, welche die Rede von einer nur bedingten und partiellen Akzeptanz des Husserlschen Forschungsparadigmas seitens der „Münchener-Göttinger“ – eine Akzeptanz, die hauptsächlich Husserls Antipsychologismus und sein ontologisches Gerüst betrifft – erlaubt: Der größte Stein des Anstoßes ist nach der Hypothese von Dr. Salice Husserls Lehre von einer Erfül-lungsbeziehung zwischen bedeutungsverleihenden
(i.e. Denken) und bedeutungserfüllenden Akten (Wahrnehmen bzw. Phantasieren, d.i. Anschauen). Diese These, die Husserl ausführlich in seinen „Logischen Untersuchungen“ (1900-01) erörtert, wird von den „Münchenern-Göttingern“ scharf bestritten. Die Kritik der Frühphänomenologen scheint auf einem Verständnis der Intentionalität zu beruhen, welches primär darauf abzielt, die unterschiedlichen Typen von Intentionalität in ihrer breiten Mannigfaltigkeit abzusondern und zu beschreiben. Während für die Frühphänomenologen mehrere Typen von untereinander irreduziblen Typen von Intentionalität existieren, gibt es für Husserl einen grundsätzlichen Typ von Intentionalität, der nur innerspezifische Unterschiede kennt. Diese Beobachtungen führen zu der Annahme, dass nicht erst die Veröffentlichung der Husserlschen „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ (1913) die Sezession – und somit die Bildung – einer eigenen „rea-listischen“ Phänomenologie veranlasste, sondern dass von Anfang an zwei phänomenologische Strömungen existierten, die einerseits unterschiedliche Akzente setzten, andererseits aber auch einen konstanten Dialog miteinander führten.