Funding Funded Projects Die sowjetische Erfahrung der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg

Die sowjetische Erfahrung der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg

Noch während des Zweiten Weltkriegs sammelte eine Moskauer Historikerkommission viele hundert bislang unbekannte sowjetische Zeitzeugenberichte zur deutschen Besatzungsherrschaft. Die Erschließung dieser Dokumente ist Gegenstand dieses Vorhabens.

Die Mitglieder der im Herbst 1941 von Isaak Minc gegründeten „Kommission zur Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ folgten den abrückenden Deutschen in kurzem Abstand; in Begleitung von Stenographinnen reisten sie in die befreiten Gebiete Südrusslands, der Ukraine und Weißrusslands, wo sie u. a. mit Arbeitern, Ingenieuren, Lehrern und Priestern sprachen, die unter den Deutschen gelebt hatten, ebenso wie mit Funktionären, die gerade aus der Evakuierung zurückgekehrt waren und nun versuchten, die sowjetische Herrschaftsordnung wieder herzustellen. In den Interviews kommen viele Frauen und alte Menschen zu Wort, Vertreter jener Bevölkerungsgruppen also, die in der Regel nicht evakuiert wurden und ungeschützter als andere die feindliche Besatzung erlebten.
Die am Ort des Geschehens und in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den geschilderten Ereignissen interviewten Menschen beschreiben den Kriegsverlauf aus lokalen Perspektiven und detailscharf. Mit ihren wiederkehrenden Schilderungen von beobachteten und selbst erlittenen Demütigungen und Formen körperlicher Gewalt zeichnen die Berichte ein verstörendes und in weiten Teilen neues Bild vom deutschen Herrschaftsregime im Osten Europas und seiner Erfahrung durch die örtliche Bevölkerung.
Die Offenheit der Mitteilungen erklärt auch, warum die Protokolle bald nach ihrer Erstellung unter Verschluss gerieten. Die Sammlung der Historiker von reich schattierten persönlichen Erinnerungen fügte sich nicht in das staatliche Diktat eines einheitlichen, heroischen Kriegsepos. Da sich im Zuge der Resowjetisierung der befreiten Gebiete zudem fast jeder, der unter der Besatzungsherrschaft gelebt hatte, mit dem Stigma der Mittäterschaft konfrontiert sah, wurde die gesamte Erfahrung der Besatzungsherrschaft schon ab Kriegsende und für die darauffolgenden Jahrzehnte in der Sowjetunion zum Tabu.
Über die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung hinweg möchte das Wissenschaftlerteam breite Leserkreise in Deutschland und Russland ansprechen: So ist der millionenfache Massenmord an den Juden Europas in den Lehrplänen beider Länder gut dokumentiert; kaum bekannt ist jedoch der weitere Kontext der nationalsozialistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik. Diesen Kontext machen viele der Interviews aus dem Krieg deutlich. Zusammen mit den Interviews wird auch die Arbeit der Historikerkommission untersucht. Wie bei jeder anderen Gesprächssituation auch verliehen ihre Fragen den Mitteilungen der Zeitzeugen eine bestimmte Prägung. Gleichwohl wird untersucht, ob und wie sehr sich die Ziele und Methoden der Historiker von denen des Geheimdienstes unterschieden, der zur gleichen Zeit in den befreiten Gebieten ermittelte, um sich ein Bild vom Verhalten sowjetischer Menschen unter feindlicher Besatzungsherrschaft zu machen. Im Gegensatz zu ihm kamen die Historiker nicht als Richtende, sie stellten offene Fragen und verstanden es, eine unbefangene Gesprächsatmosphäre zu schaffen.

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