Edition: Predigtband des reformationszeitlichen Dorfpfarrers Damasus Dürr/Siebenbürgen (ca. 1535-1585).
Die sprachmächtigen, differenzierten Predigten sind nicht nur in theologiehistorischer Hinsicht aussagekräftig, sondern auch in germanistischer, ethnologischer, mentalitäts- und sozialhistorischer Perspektive ein lohnenswertes Forschungsobjekt.
Im 16. Jahrhundert wurde das nordöstliche Ungarn (Partes) mit der Woiwodschaft Siebenbürgen ein der Hohen Pforte tributpflichtiges Fürstentum mit weitgehender innerer Autonomie der drei staatstragenden Stände. Ausgehend von Kronstadt 1542 konnte sich unter osmanischem Schutz die Reformation ausbreiten und festigen. Im offiziellen siebenbürgisch-sächsischen Rechtsraum vertraten die politischen und kirchlichen Repräsentanten eine konservative, an Wittenberg orientierte Linie. Diese Koordinaten prägten die Predigtsituation auch der Unterwälder Gemeinde Kleinpold (rumän. Apoldu de Jos) und ihres seit 1568 dort wirkenden Pfarrers Damasus Dürr.
Zur Hinterlassenschaft des evangelischen Dorfpfarrers gehören zwei Predigtbände, von denen einer bereits im 19. Jahrhundert verloren gegangen ist. Der übriggebliebene, handschriftlich im Autograph des Damasus Dürr vorliegende Band enthält 47 Predigten aus den Jahren zwischen 1569 bis 1583 für die Kirchenjahreszeit des Weihnachtsfestkreises und der Passionszeit.
Theologisch gehört der Predigtband – aufgrund des regionalgeschichtlichen Kontextes der siebenbürgisch-sächsischen Reformation – zur dort breit rezipierten melanchthonischen und lutherischen Theologie. Zeitlich steht er am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, was sich auch in der zum Teil aufscheinenden polemischen Kontroverstheologie widerspiegelt: vornehmlich gegen die helvetisch-reformierte, aber auch gegen die im lokalen Umfeld virulente antitrinitarisch-unitarische Theologie, aber auch in Abgrenzung zum Islam und mittels Wiedergabe antisemitischer Stereotype.
Nach gegenwärtigem Kenntnisstand handelt es sich bei dem Predigtband um eine singuläre Quelle. Überlieferte Dorfpredigten aus der Reformationszeit sind – im Unterschied zu Predigtdrucken und Manuskripten aus dem urbanen und höfischen Milieu – in der Forschung und als Archivalien praktisch unbekannt. Die sprachmächtigen, differenzierten Predigten sind jedoch nicht nur in theologiehistorischer Hinsicht aus-sagekräftig, sondern auch in germanistischer, ethnologischer, mentalitäts- und sozialhistorischer Perspektive ein lohnenswertes Forschungsobjekt. Sie geben z. B. Aufschluss über Formen der Sozialdisziplinierung, das reformatorische Beichtverständnis, ethische Impulse angesichts sozialer Notlagen und das damalige Standes- und Ordnungsdenken der Prediger. Die Edition dieser maßgeblichen Quelle zur Reformationsgeschichte könnte somit der internationalen Frühneuzeitforschung in den unterschiedlichsten Disziplinen auch im Blick auf die modernen wissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden eine reichhaltige Basis bieten, um die Rezeption und Realisierung der von Wittenberg ausgehenden Reformation an der europäischen Peripherie angemessen wahrzunehmen.