»Engineering Dis/Abilities« in einer modernen Gesellschaft – Das Kinderheimsystem der sozialistischen Tschechoslowakei (1945/48-1989)
In den Kinderheimen der sozialistischen Tschechoslowakei sollte eine Erziehung ideologisch-politischen Idealen gemäß unter Einbeziehung wissenschaftlich-objektiver Expertise bezüglich der Entwicklung und den Bedürfnissen von Kindern umgesetzt werden.
Kinderheime dienten in der Nachkriegstschechoslowakei der Segregation, Konzentration und therapierenden Rehabilitation von als »anormal« und »deviant« wahrgenommenen Individuen und Gruppen. Die Unterbringung eines Kindes im Heim war in vielen Fällen durch eine doppelte Zuweisung von Alterität legitimiert: Erstens konnte die körperliche, geistige sowie sozial-behaviorale Kondition des Kindes als »defekt«, »anormal« und »behindert« klassifiziert werden; zweitens wurde die familiäre Umwelt als für die erforderliche Erziehung und Fürsorge ungeeignet angesehen und sollte durch eine nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten organisierte kollektive Erziehung ersetzt werden.
Das Ziel des Forschungsprojektes ist die Rekonstruktion und systematische Analyse der Akteure, Diskurse und Institutionen einer Erziehung und Fürsorge für als »behindert« oder »defekt« wahrgenommene Kinder in der sozialistischen Tschechoslowakei zwischen 1945/48 und 1989. Es begibt sich damit in das komplexe und ambivalente Geflecht diskursiver Vorstellungen von Fähigkeit und Unfähigkeit, Normalität und Anormalität, Identität und Differenz, Konformität und Devianz. Eine besondere Rolle spielte dabei die Querschnittswissenschaft der »Defektologie«, die im Wesentlichen Kinder in den Blick nahm. In diesem aus der Sowjetunion adaptierten interdisziplinären Forschungsfeld wurden soziale Bedingungen und Folgen von »Behinderungen« in Diagnose, Fürsorge und Therapie einbezogen, um den »Defekt« in seiner Ganzheit zu erkennen und zu behandeln. Große Aufmerksamkeit widmet die Untersuchung in diesem Zusammenhang Phänomenen der Intersektionalität. Dies sind in erster Linie die Verbindungen von »Behinderung« mit »Kindheit«, aber ebenso mit »Gender« oder »Ethnizität« (z. B. Roma).
Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse soll die Untersuchung auch das Fundament für einen transnationalen Vergleich europäischer, demokratischer wie sozialistischer Nachkriegsgesellschaften unter Nutzung der Analysekategorien Dis/Ability und Social Engineering legen. Dieser soll über eine komparative Zusammenschau der institutionellen Rahmenbedingungen familiärer Ersatzfürsorge hinaus innovative Erkenntnisse zur Funktion von staatlicher Sozialfürsorge in modernen Gesellschaften liefern.
Für die Bearbeitung des Projektes werden publizierte Quellen (z. B. wissenschaftliche pädagogische Literatur, Gesetzesblätter, Verordnungen, Ratgeberliteratur) herangezogen. Darüber hinaus werden weitere – bisher weitgehend unbearbeitete – Materialien aus tschechischen und slowakischen Archiven erschlossen.