Liturgie und Bild im Mittlealter
Anhand von mittelalterlichen Texten und Bildern wirft Dr. Lentes die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Liturgie und Bildlichkeit neu auf.
Welches bildtheoretische Potential geht von der Liturgie aus, wie wirkt sie sich auf den Gebrauch und die Produktion von Bildern aus und welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Texten der Liturgie (Messe, Stundenbuch, Kirchweih), der Sakramentaltheologie und der Liturgie-Kommentierung zu? Dr. Thomas Lentes, Arbeitsstelle für Christliche Bildtheorie, Universität Münster, gliedert seine Untersuchung in fünf Kapitel, in denen er Entstehung und Aufgaben liturgischer Bildtypen nachzeichnet und sowohl einzelne Bildmodelle als auch Fragen zur Bildproduktion im Lichte neuer Hypothesen prüft. Ausgangspunkt ist die These, dass mittelalterliche Liturgiekommentare das Ritual weniger im Modus der Performanz als vielmehr im Modus der Bildlichkeit beschreiben.
Im Kapitel "Imago et Veritas. Die Liturgie als Bild" werden grundlegende Entwicklungen des Liturgieverständnisses zwischen Performanz und Bildlichkeit untersucht. Gerade im Liturgie-Diskurs des 9. bis zum ausgehenden 15. Jh. ist von den Kommentatoren eine intellektuelle Bilderdebatte ausgegangen, die auf der "Mimesis-Verweigerung" der spätantiken Liturgie basiert. Diese Verweigerung der bildlichen Nachahmung hat Allegorie und Typologie notwendig gemacht und so den theologischen Grund für eine Verbindung von Ritual und Bildlichkeit geschaffen.
Während dem Bild jeglicher Wahrheitsgehalt abgesprochen wurde, kam es im 12. Jh. zu einer Wende, bei der Wahrheit und Bild, "Imago" und "Veritas", theologisch miteinander versöhnt wurden. Dadurch ist eine figurative Interpretation des Rituals (als Repräsentation des Lebens und Leidens Christi) und der Eucharistie erst möglich geworden. Entgegen der bis heute immer wieder aufgestellten Opposition von Sakrament und Bild geht Dr. Lentes davon aus, dass die mittelalterliche Liturgie- und Sakramentaltheologie Bildmodelle entwickelte, die weit über eine solche Oppositionsstellung hinausgegangen sind. Die Tragweite für den Zusammenhang von Ritual und materiellen Bildern ist in der Forschung bis dato kaum bekannt und wird im ersten Kapitel der Studie ausgeführt.
Im zweiten Kapitel wird das Verhältnis von Performanzraum und Bildraum untersucht und diejenigen Bildqualitäten für den Sakralraum herausgearbeitet, die in den Liturgie-Kommentaren nachweisbar sind. Zum einen geht es um die Auratisierung des Heiligen Raums und die visuelle Kennzeichnung von Sakralität, zum anderen um die ab- und zunehmende Sakralität des Bildes in Abhängigkeit zur räumlichen Positionierung (Nähe zum Altar!) und die Funktion des Bildes als Orientierungsmarke für die liturgische Versammlung. Die Bilder haben nicht nur der Liturgie und dem Ritual eine räumliche Richtung gegeben, sondern auch dem gesamten christlichen Kosmos Ausdruck verliehen – von der irdischen und himmlischen Liturgie über die vergangene Heilszeit bis hin zur Jetztzeit und den Mitgliedern der Gemeinde. Eine der zentralen Aufgaben des Projekts besteht darin, das Bild als sakrale Raumeinschreibung begreifbar zu machen.
Thema des dritten Kapitels ist "Das Bild im Ritual". Zunächst wird die Entstehungsgeschichte des Altarbildes anhand von Kirchweih-Ritualen nachgezeichnet. Darauf aufbauend möchte Dr. Lentes zeigen, dass nicht die immer wieder beschriebene Bildkritik die Entstehung des Altarbildes verhinderte. Vielmehr hat es einen Bilddiskurs gegeben, der von einer Gebrauchsheilung ausging. Man hat demzufolge nur das geweiht, was rituell notwendig war, also Gewänder, Kelche, Patene etc. Bilder galten nicht per se als unheilig, waren im Sinne der liturgischen Reinheit aber weniger gefährdet als das restliche Altargerät und wurden deshalb nicht geweiht. In dem Zusammenhang sollen konkrete Bildaufgaben mit Blick auf das Ritual untersucht und die Forschungsliteratur zum "Handelnden Bildwerk" neu aufgerollt werden.
Die beiden abschließenden Kapitel widmen sich der Frage, wie Liturgie und liturgische Leitvorstellungen für die Bildproduktion und für die Bildlogiken wirksam wurden. Dabei wird das bildgenerierende Potential der Liturgie am Beispiel der Passionsikonographie dargestellt. Ausgangspunkt ist die These, dass das gesamte Feld spätmittelalterlicher Passionsbetrachtung von der liturgischen Matrix geprägt worden ist. Am Beispiel ausgewählter Flügelaltäre des 14./15. Jh. wirdin diesem Kapitel u.a. gezeigt, wie die Passionsikonographie den liturgischen Vorgaben folgt, welche Bedeutung die Liturgie für die spätmittelalterlichen Passionsbilder hatte (Schmerzensman, Imago Pietatis, Vera Ikon, Arma Christi) und wie Passion, Ritual und Bild ineinander gewirkt haben. Das letzte Kapitel "Corpus und Narration. Der liturgische Habitus der Bilder" entwickelt die These weiter, wonach Bilder auch am Habitus der Liturgie partizipieren. Demzufolge sind Bilder nicht nur als visuelle Erinnerungszeichen zu begreifen. Vielmehr sind sie im Sinne der liturgischen Memoria zu verstehen, bei der das Erinnerte im Akt des Erinnerns gegenwärtig wird. Zuletzt wird Dr. Lentes an unterschiedlichen Beispielen von Altarbildern mit Passionsdarstellungen auf einen weiteren liturgischen Habitus von Bildern aufmerksam machen: Demnach wurde die Kombination von narrativen Darstellungen aus der Passionsgeschichte und ikonischen Darstellungen Christi dem Duktus von "narratio" und "corpus" aus der Liturgie übernommen.