Macht und Ohnmacht. Hohe Polizei und lokale Herrschaftspraxis im Königreich Westphalen (1807-1813)
Im Zentrum des Forschungsvorhabens steht die Geheimpolizei im Königreich Westphalen während der napoleonischen Herrschaft.
Die geheime politische Polizei war im Königreich Westphalen für Zeitgenossen aller Positionen und Schichten sehr präsent und prägend. Nur so lässt sich erklären, dass sie im Mittelpunkt vieler „Entlarvungs“- oder „Bekennerschriften“ stand, die gleich nach dem Ende des napoleonischen Modellstaates erschienen. Opfer, Täter und Beobachter berichteten über Verstöße, Ungerechtigkeiten und Amtsmissbräuche, schrieben persönliche Rechtfertigungen und deckten Machtspiralen auf. Derartige Schriften sollten die Autoren entlasten oder umgekehrt Amtsinhaber zur Verantwortung ziehen. Die Hohe Polizei, die von der französischen Staatsmacht eingesetzt und gelenkt wurde, aber in Gestalt ihrer lokalen Agenten viel präsenter, persönlicher und greifbarer war als die ferne Regierung, stand für die vermeintliche Allmacht des westphälischen Staates, zugleich aber oft wohl auch für die Ohnmacht, wenn es Bevölkerungsstimmungen zu erfassen und zu beeinflussen galt. Darüber hinaus weckte die Geheimpolizei Emotionen. Denn die Tatsache, dass auf lokaler Ebene keine französischen Funktionäre, sondern örtlich verankerte Personen eingesetzt wurden, begründet die Brisanz im Aufeinandertreffen von Spitzeln und Beobachteten. Misstrauen, Angst und nachhaltiger Hass waren die Konsequenzen, die sich wiederum bis in jedes Dorf hinein zeigen mussten und mit lang anhaltenden Folgen einen Riss durch jede Gemeinde zogen.
Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Rolle der Hohen Polizei und ihrer lokalen Amtsträger im Königreich Westphalen in der Zeit der französischen Herrschaft (1807-1813) als Instanz zwischen Bevölkerung und Obrigkeit, als Repräsentantin der („Fremd“-)Herrschaft und als Ausdruck von Macht und Ohnmacht des Staats zu untersuchen. Damit wird nicht nur die schon länger diskutierte Forschungsfrage nach der Spannung von Polizei- und Modellstaat neu beleuchtet, sondern auch ein ganz neuer Blick auf bislang durch Quellen kaum zu erfassende Herrschaftspraktiken und Interaktionen vor Ort geworfen und der Alltag napoleonischer Herrschaft in Deutschland verständlich gemacht. Das For-schungsinteresse richtet sich dabei sowohl auf die „Täter“ (Agenten) als auch auf die „Opfer“ (Bevölkerung): Wer wurde rekrutiert, wer erklärte sich aus welchen Gründen bereit, für die „fremde Macht“ zu arbeiten? Spielten materielle Gründe eine Rolle, ging es um Macht und Privilegien oder standen weltanschauliche Überzeugungen dahinter? Waren die Agenten Mittler zwischen Regierung und ohnmächtigem Volk oder bloße Sachwalter der Herrschaft? Welches Verhältnis entwickelte sich zwischen der Bevölkerung und dem neuen „Heer von Um- und Nachschleichern“? Wer akzeptierte die neue Einrichtung, hielt sie womöglich für zweckrational? Unter welchen Voraussetzungen entwickelte sich die Hohe Polizei zu einer verhassten Institution? Trug die Unterdrückung durch die Hohe Polizei zur Bildung von antifranzösischen Feindbildern bzw. nationalen Stereotypen bei? Welche Rolle spielten Emotionen wie Empörung, Stolz, Hass, Neid, Empathie und Solidarität, die sich vielfältig in den Quellen niederschlugen, in den Deutungsmustern der „Polizierten“ und wie wirkten sie sich auf das Verhalten der Bevölkerung gegenüber der fremden Obrigkeit aus?
Das Projekt basiert im Wesentlichen auf der Auswertung eines bislang kaum beachteten großen Quellenfundus von Polizeiakten aus dem Westfälischen Archiv der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg.