Realsozialistische Industriearbeiterkulturen am Balkan
Anhand zweier Fallstudien zu den Stahlwerken in Kremikovci in Bulgarien und Elbasan in Albanien wird eine vergleichende Analyse von Industriearbeiterkulturen in Albanien und Bulgarien während des Staatssozialismus durchgeführt.
Bei beiden Kombinaten handelte es sich um die während des Realsozialismus jeweils größten Industriebetriebe des Landes – mit rund 25.000 Beschäftigten in Kremikovci und 12.000 in Elbasan. Ihnen kam eine zentrale Rolle sowohl für die Industrialisierungspolitik als auch die Gesellschaftspolitik der regierenden Kommunisten zu: Die Stahlwerke sollten als Inkubatoren des »sozialistischen« Arbeiters, ja des »Neuen Menschen« fungieren. Diese symbolische Bedeutung überlagerte ökonomische Effizienzüberlegungen. Zudem hatten diese großen Betriebe eine hervorragende Rolle für die Vergesellschaftung – sie waren mehr als nur ein Arbeitgeber.
Prof. Brunnbauer untersucht die Entwicklung der beiden Stahlwerke seit ihrer Entstehung in den 1960er- (Kremikovci) bzw. 1970er-Jahren (Elbasan). Der Fokus liegt auf den alltäglichen sozialen und kulturellen Praktiken der Arbeiter und Arbeiterinnen. Es geht also um die Muster der Arbeitsbeziehungen, um die Identitäten der Arbeiter sowie um ihr Verhältnis zur Staatsmacht. Durch die Auswertung von Interviews und von Archivdokumenten konnte bereits gezeigt werden, dass die Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz einen relativ großen Handlungsspielraum besaßen, u. a. weil die Produktion so ineffizient organisiert war, und dass sie auch die vermeintlich machtlosen Gewerkschaftsorganisationen für sich nutzen konnten. Gleichzeitig zeigt sich ein starkes Bemühen des Regimes, die Arbeiter nach seinen ideologischen Vorstellungen zu formen, wobei allerdings die Ergebnisse dieser Politik selten den Intentionen entsprachen. Insgesamt erweisen sich die Stahlwerke als echter Mikrokosmos der realsozialistischen Gesellschaft. Anhand der beiden Fallstudien erhofft Prof. Brunnbauer Rückschlüsse auch auf systemische Fragen, wie die Produktion und Erosion von Legitimität im Staatssozialismus. Er verfolgt daher einen Ansatz, der zwar den Alltag relativ machtloser Menschen in den Vordergrund rückt, aber diesen immer auch vor dem Hintergrund der vielfältigen Interventionen der Organe der Macht und der normativen Rahmenbedingungen untersucht, wobei diese Eingriffe des Staates, der Partei und der Betriebsleitungen häufig durch alltägliche soziale Praktiken begründet waren, beispielsweise um unerwünschten Verhaltensweisen, wie Unpünktlichkeit oder Alkoholkonsum am Arbeitsplatz, Herr zu werden. Struktur und Praxis, Macht und Alltag müssen somit in ihrer dialektischen Bezogenheit gesehen werden. Der Staatssozialismus kann nicht auf die kommunistische Herrschaftsausübung reduziert werden, vielmehr handelt es sich um komplexe, durch zahlreiche Widersprüche geprägte gesellschaftliche Formationen.