Transformationen des Chors – Zur Neubewertung einer ambivalenten „dramatis persona“
Anhand des Chors werden Fragen nach der Geschichte der Gattung „Drama“ sowie von Gattungswandel, -innovation und -typologie verfolgt und damit auf abstrakter Ebene Grundbedingungen dramatischer Kunst aufgezeigt.
Dr. Bodenburg möchte mit diesem Projekt die Entwicklung des dramatischen Chors in Deutschland im Zeitraum von 1800 bis 1970 mit einer innovativen gattungsästhetischen Perspektive erschließen und damit u. a. auf das wiedererstarkte Interesse der Philologien an der Gattungsdiskussion antworten. Mit dieser noch nicht verfolgten Sichtweise sollen anhand des Chors Fragen nach der Geschichte der Gattung „Drama“ sowie von Gattungswandel, -innovation und -typologie verfolgt und damit auf abstrakter Ebene Grundbedingungen dramatischer Kunst aufgezeigt werden.
Der Chor wird dabei historisch wie strukturell als eine „Ursprungsfigur“ für die Gattung Drama gesehen. An den Anfängen der Tragödie ist er fiktionale „dramatis persona“ und verweist auf den realweltlichen attischen Kontext und dessen politische Kultur. Gerade für den Chor bleibt seither kennzeichnend, dass Dramenästhetik und außertextueller Kontext in einem engen wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Damit es zur dramatischen Handlung – als Schicksalsdarstellung eines Protagonisten – kommen kann, muss der Chor Einzelfiguren entlassen; auch diese Spannung von Individuum und Kollektiv bleibt konstitutiv für den Einsatz des Chors. Mit Blick auf beide Konstanten möchte Dr. Bodenburg herausarbeiten, inwiefern der Chor jeweils gesellschaftliche Phänomene oder durch die Konstitution von „Raum“ Öffentlichkeit repräsentiert und wie anhand seiner das Verhältnis von Individuum und Kollektiv verhandelt wird. Für den historischen Vorlauf des Untersuchungszeitraums – Gryphius, Lohenstein, Shakespeare, Corneille und Racine, mit denen sich das deutsche Drama des 18. Jahrhunderts intensiv auseinandersetzt – wird zudem eruiert, wie der Chor als gattungsspezifisches Element auf die Tragödie zurückwirkt und welche Spielräume sich öffnen, wenn seine Position leer bleibt, wie etwa oft bei Shakespeare oder in der französischen Klassik.
Für das Gattungselement Chor ist, so eine weitere Projektthese, eine vielfache Ambivalenz charakteristisch: eine Zwischenstellung zwischen Figur und raumkonstitutiver Funktion, Ästhetik und realweltlicher Anbindung etc. So auch in der Phase intensiver Antikerezeption um 1800, bei der der Hauptteil der Studie ansetzt, konkret bei Schillers Drama „Braut von Messina“ und seinem Vorwort „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ (1803). Der Chor erscheint hier sowohl als Instanz, die das Geschehen reflektiert und kommentiert, als auch als handlungstreibende und selbst affektgetriebene Figur. Von hier ausgehend werden derartige Ambivalenzen und die jeweils spezifischen Funktionen des Chors durch das 19. Jahrhundert über den Expressionismus und sozialistische Sprechchorwerke der 1920er Jahre (Ernst Toller u. a.) zu den – selten beforschten – Lehrwerken Brechts und Heiner Müllers Chor-Experimenten der 1970er Jahre verfolgt. Neben den Stücken werden jeweils dramen- bzw. tragödientheoretische Texte herangezogen und reflektiert.