Variabilität und Stabilität im gemischten Substandard im extensiven und zeitstabilen Sprachkontakt: die ukrainisch-russische gemischte Rede in der Ukraine im Vergleich mit der weißrussisch-russischen gemischten Rede in Weißrussland
In der „gemischten Rede“ wechseln sich Elemente verschiedener Sprachen in schneller Folge auch innerhalb einzelner Sätze ab.
Das ukrainische „Surzyk“ und das weißrussische „Trasjanka“ sind heute von Millionen Sprechern (fast ausschließlich mündlich) gebrauchte Formen der „gemischten Rede“, in denen sich ukrainische resp. weißrussische und russische Elemente in schneller Folge auch innerhalb einzelner Sätze abwechseln. Beide Subvarietäten entstanden im Zuge der Urbanisierung – als Versuch der Landbevölkerung, sich an das in den Städten gesprochene Russische anzupassen. Da beide Begriffe eine Abwertung bedeuten und mit niedrigem Bildungsstandard assoziiert werden, verwendet das Forscherteam die neutralen Termini „ukrainisch-russische gemischte Rede“ (URGR) und „weißrussisch-russische gemischte Rede“ (WRGR).
WRGR und URGR werden von der Sprachwissenschaft als analoge Phänomene gesehen. Während aber in Weißrussland heute Weißrussisch und Russisch Staatssprachen sind, ist in der Ukraine das Ukrainische alleinige Staatssprache, und es lässt sich eine Polarisierung in „anti-ukrainische“ und „pro-russische“ Haltungen im Osten und „pro-ukrainische“ und „anti-russische“ Einstellungen im Westen feststellen. Die Zentralukraine – das Hauptverbreitungsgebiet der URGR – ist in dieser Hinsicht uneinheitlich; für sie soll die Untersuchung durchgeführt werden.
Das Vorhaben gliedert sich in zwei eng verbundene Teile, einen sprachwissenschaftlichen und einen sprachsoziologischen.
In dem sprachwissenschaftlichen Projektteil sind vorgesehen: eine umfassende Beschreibung der URGR in ihren lautlichen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Strukturen; ein systematischer Vergleich von URGR und WRGR; ein Beitrag zur theoretischen Linguistik. Darin soll – aufbauend auf Befunde, ob sich in beiden Varietäten vergleichbare hierarchische Muster ersehen lassen, nach denen sie Elemente ihrer „Gebersprachen“ variieren – näher konturiert werden, was in derart hochvariablen sozialen Subvarietäten, die durch keine Standardsprache stabilisiert werden, unter „Usus“ zu verstehen ist und welche – quantitativen, qualitativen oder soziologischen – Kriterien für die Bestimmung einer „Mischsprache“ anzusetzen sind.
Im sprachsoziologischen Projektteil soll der Zusammenhang zwischen nationaler bzw. sozialer Identität und URGR-Verwendung ermittelt werden. Identifikationsmuster werden hier mit cluster-, faktoren- und korrespondenzanalytischen Verfahren eruiert und nach Region, Geschlecht, Alter, Bildungsstand und sozialem Umfeld differenziert. Schließlich wird der kommunikative und ökonomische Nutzen von URGR, Ukrainisch und Russisch bewertet.