Vergnügen verboten. Das faschistische Regime, Venedig und die Unterdrückung des Jazz
Wie hat sich das faschistische Regime Italiens gegenüber neuen Kulturformen wie dem Jazz und den aus Amerika importierten Tänzen (Charleston, Foxtrott, Black-Bottom) verhalten?
Bisherige Studien zur Erforschung des Jazz im faschistischen Italien haben eine dezidiert musikwissenschaftliche Richtung verfolgt. Im Gegensatz dazu wird in dieser Studie eine historiographische Perspektive eingenommen. Konzeptioneller Ausgangspunkt sind Forschungsarbeiten zur deutschen Jazzrezeption unter dem Hakenkreuz, deren methodisches Vorgehen für die geplante Untersuchung fruchtbar gemacht werden soll.
Während das faschistische Regime in Italien zunächst eine modernistische Kulturpolitik verfolgte, zogen sich die Machthaber ab Mitte der dreißiger Jahre auf traditionelle Positionen zurück. Ausschlaggebend dafür dürfte Italiens Austritt aus dem Völkerbund nach dem italienischen Angriff auf Äthiopien gewesen sein, infolge dessen Musik aus den Mitgliedsländern der Zensur zum Opfer fiel. Im Unterschied zu Deutschland allerdings, wo Jazzmusik und Tänze zu Swing-Rhythmen grundsätzlich verboten waren, wurde die amerikanische Populärmusik in Italien – trotz moralischer Bedenken und starker Anfeindungen aus dem kirchlichen Lager, und obwohl das Regime die ausübenden Musiker, Tänzer und Hörer diskriminierte – in reglementierter Form zugelassen. Im Rahmen des Projekts wird nach den Gründen für diese scheinbar indifferente Haltung geforscht. Möglicherweise stand die Tolerierung im Dienst der rassistischen Politik, da die Musik nach Meinung der Zensoren die Verdorbenheit der „unterlegenen“ Rasse entlarven würde. Sie stand offenbar aber auch im Dienst einer vorgetäuschten Modernität, wenn Jazzmusik im Rahmen des international ausgerichteten Musikfestivals in Venedig zum Nachweis der Fortschrittlichkeit des Regimes instrumentalisiert wurde.
Diese ambivalente Haltung des Regimes gegenüber der Jazzmusik wird im Rahmen dieses Projekts genauso untersucht wie die Rolle der Musik als Vehikel der Regimekritik. So können kritische Töne in manchen berühmten Titeln der Unterhaltungsmusik kaum überhört werden, etwa wenn die Autoren der Lieder „Crapa pelada“ oder „Pippo non lo sa“ mit parodistischen Anspielungen auf Mussolini oder den Parteivorsitzenden Achille Starace aufwarten.
In der Untersuchung geht es nicht darum, eine Jazzgeschichte der dreißiger Jahre in Italien zu schreiben. Vielmehr möchten Prof. Meine und Prof. Petri die Repressionsmethoden und Richtlinien der Zensur im Spannungsfeld von offiziellen Moralvorstellungen und der davon abweichenden außenpolitischen Selbstdarstellung herausarbeiten. Wie hat sich das faschistische Regime gegenüber neuen Kulturformen wie dem Jazz und den aus Amerika importierten Tänzen (Charleston, Foxtrott, Black-Bottom) verhalten? Inwieweit wurden die politisch unangepassten Künstler, Musiker, Drehbuchautoren, Tänzer, Theaterdirektoren, Regisseure und Showagenten etc. verfolgt und diskriminiert? Diese und andere Fragen lassen sich idealerweise im Zusammenhang mit dem Festival für zeitgenössische Musik in Venedig beantworten, nicht nur weil die Stadt ein kultureller Brennpunkt war, sondern auch, weil das Regime hier eine außenpolitische Bühne fand, die offiziell zwar unter der Regie des faschistischen Komponisten Adriano Lualdi stand, die tatsächlich aber von dem international renommierten Musiker und Jazzbewunderer Alfredo Casella geleitet wurde.