Visuelle Logik musikalischer Notation zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit
In der Geschichte der musikalischen Notation hat es signifikante Umbrüche gegeben. Sie werden nun aus bildtheoretischer Perspektive vergleichend analysiert.
Die Geschichte der Musiknotation, die sich in Europa seit den frühesten Notenschriften im 9. Jahrhundert entwickelt hat, ist nicht nur musikhistorisch bedeutsam. Da Musiknotationen als materielle Träger einer dialektischen Spannung zwischen Erinnerung und Vergegenwärtigung sowie zwischen Visuellem und Klanglichem vermitteln, sind die Niederschrift akustischer Phänomene und die damit verbundenen Visualisierungsstrategien auch im Hinblick auf semiotische und bildtheoretische Fragestellungen von Bedeutung. Während sich klassische Nachschlagewerke zur Musiknotation vornehmlich auf Aspekte der Aufführbarkeit und Orthographie konzentrieren und dabei die Notation im Hinblick auf ihre pragmatische Lesbarkeit entschlüsseln und klassifizieren, geht es in der Studie um die in der Forschung bislang kaum beachteten unterschiedlichen Strategien der Visualisierung von musikalischen Sachverhalten und damit um ihre grundlegende Seinsweise als historisch bedingte visuelle Kulturtechnik.
Im Zentrum des Projekts steht die vergleichende Analyse der signifikanten Umbrüche in der Geschichte der musikalischen Notation, wobei die jeweiligen Übergänge von der rhythmuslosen Quadratnotation über die Modal- und Mensuralnotation bis hin zur Tactusnotation in zeichen- und bildtheoretischer Perspektive untersucht werden. Es soll gezeigt werden, wie sich die Strategien im historischen Spiegel der Notenschriften zueinander verhielten und veränderten. Die stetige Ausdifferenzierung der Rhythmik im 13. Jahrhundert, die Einkehr der Sprach- und Bildlichkeit und die Entstehung neuer taktmetrischer Gliederungen, die ab dem 15. Jahrhundert mit dem Ausdruck „Tactus“ versehen wurden, hatten eine Entwicklung zur Folge, bei der die bildliche durch eine symbolische Notation ersetzt wurde. Das, was eigentlich einen Fortschritt bedeutete, zog auf der Ebene der visuellen Repräsentation zugleich auch Rückschritte nach sich. Es soll gezeigt werden, dass die Konkretisierung der Bezugnahme zwischen „Zeichen“ und „Bezeichnetem“, d. h. die Steigerung der Notationalität, einen unmittelbaren Einfluss auf Struktur und grafische Gestalt der Notenzeichen hatte.
Neben der neu zu entwickelnden Perspektive notationstheoretischer Untersuchung ist es ein weiteres Bestreben der Studie, an die musik-bezogenen Forschungsansätze der wissenschaftlichen Disziplinen der „Bildkritik“ anzuknüpfen und sie methodologisch für die eigenen Untersuchungen nutzbar zu machen.